Offener Brief an die Schulbuchverlage Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH

München, 6.11.2013
 
Afrikabild in Schulbüchern
(Diercke Geographie 8,  Westermann; Seydlitz Geographie 8, Schroedel)

 
In letzter Zeit sind wir mehrfach von Eltern, Schülerinnen und Schülern darauf aufmerksam gemacht worden, dass in Schulbüchern zum Fach Geographie stereotype,  zum Teil rassistische Bilder über Menschen afrikanischer Herkunft und den afrikanischen Kontinent vorherrschen. Schwarze Personen erscheinen hier vor allem als hilflose und passive, "sprachlose" Opfer oder sind Teil lächerlicher entmenschlichender Karikaturen. Sie werden im Schulbuch exotisiert, sexualisiert und als nicht europäisch verortet, obwohl sie ebenso Teil der deutschen Gesellschaft sind.
 
Solche hierarchisierenden Botschaften verleiten Lehrkräfte und Schüler_innen zu unreflektiertem Gebrauch von Begrifflichkeiten und festigen stereotype Einstellungen gegenüber Schwarzen Menschen. Unwillkürlich  werden so koloniale Bilder und Rollenvorstellungen weitergeschrieben, die zu Übertragungen führen und sich nachteilig auf Schüler_innen afrikanischer Herkunft in der Klasse auswirken können. Bundesweite Untersuchungen haben gezeigt, dass rassistische Inhalte dieser Art in allen analysierten Büchern vorzufinden sind (s. auch Dr. Elina Marmer, Universität Hamburg: Projekt "Image of Africa in Education").
 
Wir beziehen uns hier exemplarisch auf die bayrischen Ausgaben, da in diesen das Themengebiet "Afrika" am ausführlichsten behandelt wird, was zur größten Anhäufung  von rassistischen Repräsentationen führt. Außerdem sind in den Ausgaben für andere Bundesländer vereinzelnde rassismuskritische Versuche zu finden, welche in diesen bayrischen Schulbüchern vollkommen fehlen.
 
Der Themenkomplex Afrika (gemäß bayrischem Lehrplan, Gymnasium, Geographie,  8. Jahrgangsstufe) wird in den aktuellen Schulbuchausgaben von Diercke Geographie 8 (Dietersberger et al., 2006, Westermann) und Seydlitz Geographie 8 (Büttner et al., 2006, Schroedel) unter Querschnittsthemen wie "Kriege, Krisen, Krankheiten, Katastrophen, Kriminalität" behandelt. Die vorkoloniale Geschichte, Kulturen und Philosophien der afrikanischen Gesellschaften sind kaum erwähnt. Abwertende Inhalte, Bilder und Begrifflichkeiten werden Afrika zugeordnet und spiegeln kolonialrassistische Denkmuster wider. Gleich zu Beginn der Schulbuchausgabe von Diercke Geographie 8 sind Schüler_innen aufgefordert, die Gesichter von Menschen nach rassialen Aspekten kontinental zu zuordnen. Die Wiedergabe eines kulturalisierenden Menschenbildes bedeutet eine Reproduktion von Rassismus im Bildungskontext. Darauf verweisen auch die UN-Menschenrechtskonventionen.
 
Begrifflichkeiten wie "negrid", "Schwarzafrika", "Stämme", "Weiß-Afrikaner", "Mulatte", "Mischling" und "Rasse" gehören zu einer der kolonialen und nationalsozialistischen Denktradition und -praxis verhafteten rassialisierenden Sprache. Diese impliziert die bereits wissenschaftlich widerlegte falsche Annahme von der Existenz unterschiedlicher "Rassen". Dementsprechend wird selbst der Kontinent Afrika in den Schulbüchern zweigeteilt und als "schwarz" markiert, um eine künstlich konstruierte Unterscheidung nach "zivilisatorischen Aspekten" aus kolonialrassistischer Perspektive vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist die regelmäßige Begutachtung von Lehrmitteln unter rassismuskritischen Aspekten wichtig, damit Rassismus keine Legitimation erfährt und nicht auf Kosten von betroffenen Minoritäten salonfähig gemacht wird (s. auch: Laja, Modupe (2009): Alltagsrassismus und institutioneller Rassismus anhand des Beispiels Schule. In: Landeshauptstadt München Direktorium, Antidiskriminierungsstelle für Menschen mit Migrationshintergrund, AMIGRA München (Hrsg.): Dokumentation Fachtagung "München Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus" 11.12.08 München).
 
Schwarze Personen sind in den genannten Lehrmitteln wiederholt nur als Feld- bzw. Plantagenarbeiter_innen repräsentiert. Dies suggeriert, dass diese die für sie einzigen  vorgesehenen naturgegebenen Rollen in der Arbeitswelt sind. Es fehlen Quellenangaben zu Photos. Des Weiteren möchten wir darauf hinweisen, dass im Besonderen die Persönlichkeitsrechte von (Schwarzen) Kindern in diesen Schulbüchern erheblich verletzt werden. Es werden ein ca. 9-jähriges Kind mit Waffe ("Kindsoldat") und ein todkrankes, vermeintlich mit HIV infiziertes, Kind abgebildet. Dazu fehlen die notwendigen Quellenangaben und Namen zur Identität der Abgebildeten. Es erscheinen keine entsprechenden Bilder von weißen Kindern in diesem Buch, die dieses hohe Potenzial an Gewalt ausstrahlen. In einem Buch wird ein Schwarzes Mädchen mit Kondom gezeigt und im Text daneben auf die Inkompetenz Schwarzer Männer im Umgang mit Kondomen verwiesen. Indem die verantwortlichen Autor_innen ausschließlich Schwarze Personen in Bezug zu diesen Themen setzen, werden diese, darunter insbesondere die Kinder, durch Darstellung  und Sprache kriminalisiert und sexualisiert. Durch die Art der Repräsentationen ist "weiß" als Norm und "schwarz" antithetisch dazu als Abnorm konstruiert.
 
Politische Themen und Systeme wie Kolonialismus, Entwicklungshilfe und Apartheid sind in den Schulbüchern teilweise ungenau und missverständlich referiert. Informationen und Fakten, die die aktive Einflussnahme der Europäer auf für afrikanische Gesellschaften dysfunktionale politische (Apartheid, Diktaturen) und wirtschaftliche Systeme erschließen, werden verschwiegen. Es ist unmöglich ein Unrechtssystem als menschenunwürdig zu entlarven, wenn zu dessen Erklärung rassistische Begriffe aus diesem System in legitimierter Form verwendet werden. Die künstlich konstruierte, erfundene "Rassen"-einteilung ist Teil solcher Unrechts- und Machtsysteme.
 
Der wissenschaftlich bereits im letzten Jahrhundert widerlegte Mythos, Bevölkerungswachstum sei die Ursache für Armut, wird hartnäckig weiterverbreitet. Dabei werden Begriffe wie "Bevölkerungsexplosion" verwendet, die wegen ihrer entmenschlichenden Wirkung in der wissenschaftlichen Literatur als unangebracht gelten. Der Begriff "Entwicklung" wird zum Teil unkritisch benutzt; dahinter verbirgt sich die eurozentristische kolonialrassistische Annahme, alle Gesellschaften hätten dem westlichen Vorbild zu folgen. Die so genannte "Entwicklungshilfe" des Westens wird unkritisch als positiv dargestellt, dabei wird der Eigennutzen (Regulierung der Einwanderung, Sicherung der Rohstoffe, strategische und wirtschaftliche Vorteile, politische Abhängigkeit) komplett verschwiegen. Letztlich wird die Rolle des IWF beim Verfall der sozialen Systeme vieler afrikanischer Staaten sowie ihre systematische Benachteiligung auf dem Weltmarkt überhaupt nicht diskutiert. Viele Zusammenhänge sind schlichtweg schlecht recherchiert und falsch dargestellt (z.B. Der Genozid in Ruanda wird als "Auseinandersetzung mit anderen Stämmen" beschrieben).
 
Wenn die Autor_innen mit diesen Themengebieten schon so nachlässig umgehen, wie kann von den Schüler_innen eine Betrachtung auf der gleichen Augenhöhe erwartet werden?
 
An Kinder und Jugendliche adressierte (Lehr-)Materialien müssen zugleich diversitätsbewusst und diskriminierungskritisch ausgerichtet sein. Es ist hier dringend erforderlich, Kindheit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse zu analysieren und wahrzunehmen und dies dementsprechend bei der Wissensproduktion von an junge Rezipient_innen gerichteten Lehrinhalten zu berücksichtigen (s. auch: Eggers, Maureen Maisha (2013): Diversity Matters. Thematisierungen von Gleichheit und Differenz in der rassismuskritischen Bildungs- und Soziale Arbeit. In: Landeshauptstadt München Direktorium, Antidiskriminierungsstelle für Menschen mit Migrationshintergrund, AMIGRA München (Hrsg.): Dokumentation Fachtagung Rassismuskritische Bildungs- und Soziale Arbeit. 23.03.12 München).
 
 
Offene Aufforderung:

  • inhaltliche und methodische Überarbeitung der Schulbücher unter rassismuskritischen, diversitätsbewußten Gesichtspunkten gemäß UN und EU Konventionen (siehe unten)
  • multi-perspektivischer Ansatz bei der Darstellung des afrikanischen Kontinents, seiner Geschichte und von Menschen afrikanischer Herkunft
  • Vermeidung kulturalisierender ethnozentrischer Stereotypisierungen
  • Berücksichtigung unserer Kritikpunkte an den Schulbüchern bei der nächsten Schulbuchüberarbeitung
  • Stellungnahme zur künftigen Handhabe der Mängel, um diskriminierungsfreie
  • Inhalte und Sprache in Schulbüchern zu gewährleisten

 
 
Wir berufen uns mit unserem Anliegen unter anderem auf die UN "General recommendation No. 34" von 2011, der UN proklamierten Jahr der Menschen afrikanischer Herkunft (Year of the "People of African Descent"). Diese Empfehlung ist eine Vertiefung und Auslegung des allgemeinen Völkerrechts und bildet einen Teil der vom Anti-Diskriminierungsausschuss (Committee on the Elimination of Racial Discrimination, CERD) abgegebenen Erklärungen zu den allgemeinen Menschenrechtskonventionen.
 
Die von CERD 2011 verfasste Empfehlung bezieht sich im besonderen Maße auf Menschen aus Afrika und der afrikanischen Diaspora. Die Bundesrepublik Deutschland, und damit auch jedes Bundesland, geht mit der Ratifizierung Deutschlands die menschenrechtliche Verpflichtung ein, u.a. für diskriminierungsfreie Bildungsinhalte und einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung zu sorgen:

  1. Review all the language in textbooks which conveys stereotyped or demeaning images, references, names or opinions concerning people of African descent and replace it with images, references, names and opinions which convey the message of the inherent dignity and equality of all human beings.
  2. Ensure that public and private education systems do not discriminate against or exclude children based on race or descent.
  3. Take measures to reduce the school dropout rate for children of African descent.
  4. Consider adopting special measures aimed at promoting the education of all students of African descent, guarantee equitable access to higher education for people of African descent and facilitate professional educational careers.
  5. Act with determination to eliminate any discrimination against students of African descent.
  6. Include in textbooks, at all appropriate levels, chapters about the history and cultures of peoples of African descent and preserve this knowledge in museums and other forums for future generations, encourage and support the publication and distribution of books and other print materials, as well as the broadcasting of television and radio programmes about their history and cultures.

(Quelle: http://www2.ohchr.org/english/bodies/cerd/docs/GR34_English.pdf )
 
Wir bitten um eine Stellungnahme und die Einleitung von Schritten auf Verlagsseite sowie institutioneller Seite zur inhaltlichen Überprüfung und Überarbeitung der Schulbücher nach obengenannten Parametern unter Berücksichtigung obengenannter Gesichtspunkte auf Grundlage der Menschenrechtskonventionen für einen rassismuskritischen Umgang mit Bildungsinhalten.
 
Joshua Kwesi Aikins        (Politikwissenschaftler, Beirat ISD Bund e.V.)
Austen Brandt                (Phoenix e.V.)
Prof. Maisha Eggers        (Diversity und Kindheitsstudien, Universität Magdeburg Stendhal)
Modupe Laja                   (Philologin, NeRaS Netzwerk Rassismus an Schulen)
Dr. Felicitas Macgilchrist (Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung)
Dr. Elina Marmer             (Erziehungswissenschaften, Universität Hamburg)
Dr. Florence Tsagué       (Politikwissenschaftlerin, Universität Siegen)
 
Dieser Briefwechsel wird öffentlich geführt. Das Anschreiben sowie Ihre Antwort können zu Zwecken der Dokumentation und Aufklärung veröffentlicht werden.
 
Unterzeichnende Organisationen
 
NeRaS Netzwerk Rassismus an Schulen (u.a. Hamburg, München)
AK Panafrikanismus e.V., München
Phoenix e.V.
ISD Bund e.V. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
ADEFRA e.V. Schwarze Frauen in Deutschland
IAF e.V. Verband binationaler Familien und Partnerschaften
AfricAvenir e.V., Berlin
Berlin Postkolonial
[muc] münchen postkolonial

NeRaS - Netzwerk Rassismus an Schulen, Kontaktadresse München: neras_muenchen(at)yahoo.de
Bitte diese E-Mail-Adresse nutzen, wenn Sie als Person oder Organisation den Brief auf www.neras.de unterstützen und mitunterzeichnen möchten!